Mittwoch, 3. Juni 2020

Motion ‘eCall-Notrufsystem’

Der Mensch soll entscheiden und nicht eine Maschine

Landtagsvotum zur Motion zum Erhalt der Entscheidungsfreiheit bei Anrufen des 'eCall-Notrufsystems'

Vermutlich fast jede und jeder oder eventuell sogar alle von uns besitzen ein Mobiltelefon. Wissen Sie noch, was Sie als Erstes gemacht haben, als Sie ihr Mobiltelefon das erste Mal in Betrieb genommen haben? Ich wage zu behaupten, dass Sie es zuerst konfigurierten und die Einstellungen im entsprechenden Menü gemäss ihren Präferenzen vornahmen.

Ich wage auch zu behaupten, dass eine der ersten Einstellungen, die sie vorgenommen haben, die Abschaltung der Funktion der automatischen Übermittlung einiger Daten an den Gerätehersteller gewesen ist. Damit haben Sie für sich die Option gewählt, selbst zu entscheiden, welche Informationen automatisch weitergegeben werden sollen und welche nicht.

Unpersönlich und allgemein ausgedrückt heisst dies: Der Mensch soll entscheiden und nicht eine Maschine.

Und genau darum geht es bei dieser Motion: Der Mensch soll entscheiden und nicht eine Maschine.

Im Anschluss an die Landtagsdebatte bezüglich der Revision des Kommunikationsgesetzes von März dieses Jahres sagte ein Abgeordneter in Rahmen eines privaten Gesprächs zu mir, dass er meine Intention und meine Ausführungen zum ‘eCall-Notrufsystem’ sehr gut verstehen könne. Auch, wo ich das Problem orten würde. Aber so wichtig, um deswegen eine Motion einzureichen, sei es nun doch auch nicht.

In der Bewertung der Bedeutung dieser Motion scheinen wir uns zu unterscheiden.

Denn ich erachte es sehr wohl als bedeutsam, dass eine Gesetzesbestimmung, mit welcher der Gesetzgeber die Entscheidungskompetenz in einer bestimmten Angelegenheit der Bevölkerung - also den Menschen unseres Landes - übertrug, auch bei den Menschen bleibt und sie ihnen nicht durch eine neue technische Errungenschaft entzogen wird.

Nichts anderes haben wir im März dieses Jahres mit der Abänderung des Kommunikationsgesetzes in Bezug auf Art. 47 Abs. 3 des Strassenverkehrsgesetzes gemacht.

Wir haben beschlossen: Eine Maschine soll entscheiden und nicht der Mensch.

Und auch wenn dieser Beschluss nur einen kleinen Teilbereich betrifft, ist er meines Erachtens von Bedeutung. Wehret den Anfängen. Die technische Entwicklung geht weiter. Heute ist es nur ein Absatz des Strassenverkehrsgesetzes, morgen ist es vielleicht schon sehr viel mehr.

Ich möchte nicht, dass in Liechtenstein gesetzliche Entscheidungsfreiheiten für die Bevölkerung von technischen Errungenschaften - also von Maschinen - ausgehöhlt bzw. ad absurdum geführt werden. Diesbezüglich gilt es von Anfang an ein Signal zu setzen, dass dies keine wünschenswerte Entwicklung ist. Es gilt von Anfang an Stopp zu sagen.

Mit der Überweisung dieser Motion sagen wir von Anfang an Stopp, indem wir der Regierung den Auftrag geben, dem Landtag die notwendigen gesetzlichen Anpassungen vorzulegen um sicherzustellen, dass auch bei Benachrichtigung der Landespolizei mittels ‘eCall-Notrufsystem’ bei Kollisionen nach Art. 47 Abs. 3 Strassenverkehrsgesetz (SVG), also bei denen nur Sachschaden entstand, die Entscheidungsfreiheit des oder der Betroffenen, ob die Landespolizei tätig werden soll oder eben nicht, erhalten bleibt.

Seit März 2018 ist der automatische Notruf ‘eCall’ für neu typengeprüfte Personen- und Lieferwagen in Europa obligatorisch. ‘eCall’ bezweckt, dass bei einem Unfall, bei welchem der Airbag ausgelöst wird, automatisch die Polizei verständigt wird. Der Mindestdatensatz enthält Informationen wie beispielsweise Unfallstandort, Fahrzeugnummer, Zeitstempel, Anzahl der Insassen und Fahrtrichtung. Mit der Verabschiedung des Kommunikationsgesetzes wurden die Telekommunikationsanbieter dazu verpflichtet, die ‘eCall-Kennung’ in ihren Netzen zu implementieren sowie die Gleichbehandlung von ‘eCall-Anrufen’ mit anderen Anrufen unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer 112 zu garantieren. Die Schweiz hat dieses ‘eCall-System’ ebenfalls übernommen, obwohl sie weder der EU noch dem EWR angehört und hierzu somit nicht verpflichtet gewesen wäre.

Auch für die Motionäre macht das ‘eCall-Notrufsystem’ Sinn und sie anerkennen seinen Nutzen und seine Vorteile. Auch deshalb stimmten die Motionäre der Änderung des Kommunikationsgesetzes, mit welchen die Grundlagen für eine reibungslose Funktionalität des ‘eCall-Notrufsystems’ in Liechtenstein geschaffen wurden, zu. Für die Motionäre steht diese Motion nicht im Widerspruch zur Einführung des ‘eCall-Notrufsystems’.

Für die Motionäre stimmt dieses ‘eCall-Notrufsystem’ aber nicht mit Art. 47 Abs. 3 Strassenverkehrsgesetz (SVG) überein. In diesem Artikel des Strassenverkehrsgesetzes steht zum Verhalten bei Unfällen: «Ist nur ein Sachschaden entstanden, so hat der Schädiger sofort den Geschädigten zu benachrichtigen und Namen und Adresse anzugeben. Wenn dies nicht möglich ist, hat er unverzüglich die Polizei zu verständigen.» Das heisst nichts anderes als bei Verkehrsunfällen, bei denen nur Sachschaden entstanden ist, nicht zwingend die Landespolizei hinzugezogen werden muss. Die Polizei muss nur gerufen werden, wenn der Geschädigte nicht benachrichtigt werden kann.

Tatsache ist aber, dass nun das ‘eCall-Notrufsystem’ dazu führen kann, dass die Polizei mittels automatischen ‘eCall-Anruf’ auch bei Unfällen verständigt wird, bei welchen gemäss Art 47 Abs. 3 des Strassenverkehrsgesetzes eine Verständigung der Landespolizei gar nicht vorgeschrieben ist. Somit führt eine neue technische Errungenschaft dazu, dass die Entscheidungsfreiheit der Bevölkerung ausgehöhlt wird und unter Umständen Strafen bis hin zu Führerscheinentzügen ausgesprochen werden, obwohl eine gesetzliche Bestimmung des Strassenverkehrsgesetzes vorgibt, dass die Polizei gar nicht hätte verständigt werden müssen.

Kurzum: Eine Maschine soll entscheiden und nicht der Mensch.

Die Regierung bestätigt dies. Sie schreibt in ihrem Bericht für die 2. Lesung des Kommunikationsgesetzes auf den Seiten 7f.: 

«Es trifft zu, dass durch das ‘eCall-Notrufsystem’ die Landespolizei in Einzelfällen auch dann verständigt wird, wenn die Voraussetzungen des Art. 47 SVG nicht vorliegen, d.h. wenn trotz schwerer Kollision keine Personen verletzt wurden und die Fahrzeuglenker somit nicht verpflichtet sind, die Landespolizei zu verständigen. Bereits nach der heutigen Praxis wird aber die Landespolizei meist auch durch nicht beteiligte Dritte ohne Kenntnis der involvierten Fahrzeuglenker über den Unfall verständigt. Das Legalitätsprinzip des Strafprozessrechts verlangt in diesen Fällen, dass die Landespolizei auch dann tätig wird, wenn die Unfallbeteiligten dies nicht wünschen.»
Die Argumentation der Regierung und der Verweis auf das Legalitätsprinzip mag zwar formell richtig sein, doch in der Praxis ist er spätestens seit dem 7. August 2019 zu hinterfragen. An diesem 7. August 2019 hat das Obergericht ein Urteil gefällt, mit welchem eine Person freigesprochen wurde, welche einen Unfall gemäss Art. 47 Abs. 3 hatte. Die Polizei wurde durch einen Dritten, der an der Unfallstelle vorbeifuhr, verständigt. Bis die Polizei kam, war die Unfallstelle geräumt. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen unzulässigem Entfernen von der Unfallstelle und vorsätzlichen Verhindern einer Blutprobe erhoben. In 2. Instanz wurde die Person freigesprochen. Dies mit der Begründung:
«Zu Recht macht der Berufungswerber geltend, dass er zur Meldung des erlittenen Selbstunfalles nicht verpflichtet war. Die Meldepflicht gemäss Art. 47 Abs. 2 scheidet aus, weil keine Personen verletzt wurden, jene nach Art. 47. Abs. 3 SVG deswegen, weil kein Drittschaden entstand.»
Im Urteil resümiert das Obergericht, dass der Beschuldigte freizusprechen sei, weil er nicht verpflichtet war, den erlittenen Selbstunfall der Landespolizei zu melden. 

Das Urteil ist rechtskräftig. Dies bedeutet nichts anderes, als wäre in diesem Auto bereits das ‘eCall-Notrufsystem’ eingebaut gewesen, die Polizei gekommen wäre und dies für den Lenker unter Umständen eine Strafe oder sogar einen Führerscheinentzug zur Folge gehabt hätte. Dieses Urteil belegt, dass die Argumentation der Regierung mit Bezug auf das Legalitätsprinzip nicht stimmig ist und das ‘eCall-Notrufsystem’ die Entscheidungskompetenz der Bevölkerung mindert und die Stellung des Staates stärkt.

Oder anders ausgedrückt: Die Maschine soll entscheiden und nicht der Mensch.

Mit der Verabschiedung der Revision des Kommunikationsgesetzes ohne gleichzeitige Anpassung des Strassenverkehrsgesetzes geht noch eine weitere Problematik einher - nämlich jene der Rechtssicherheit. Wie will die Regierung in Zukunft Unfälle nach Art 47. Abs. 3 des Strassenverkehrsgesetzes handhaben, wenn die Landespolizei mittels ‘eCall-Notrufsystem’ zu einer solchen Unfallstelle gerufen wurde?

Darauf gab die Regierung in ihren beiden Bericht und Anträgen zum Kommunikationsgesetz keine Antwort. Dies bedeutet, dass es heute keine Regelung und keine Bestimmung gibt, wie die Landespolizei mit Unfällen gemäss Art. 47 Abs. 3 SVG verfahren soll, wenn sie mittel ‘eCall-Notrufsystem’ zu einem solchen Unfall gerufen wird. Somit haben wir eine Gesetzeslücke geschaffen. Die Motionäre schlagen deshalb vor, das Strassenverkehrsgesetz anzupassen. Dies auch mit dem Ziel, Rechtssicherheit zu schaffen.

Sollten wir die Gesetzeslage so belassen, wie sie heute ist, also Kommunikationsgesetz versus Strassenverkehrsgesetz, werden sich über kurz oder lang Gerichte sich mit dieser Thematik auseinandersetzen müssen. Dann wird vermutlich nach mehreren Instanzenzügen die Judikative entscheiden, wie mit dieser Unklarheit zu verfahren ist.

Der Gesetzgeber ist jedoch der Landtag und nicht eine Gerichtsinstanz. Wir sollten vorgeben, wie wir mit diesem Missstand umgehen bzw. wie wir diese Gesetzeslücke schliessen wollen. Die Überweisung der Motion käme einem Bekenntnis des Landtages gleich, dass er selbst diese Gesetzeslücke schliessen möchte und diese Aufgabe nicht mittels eines Urteilsspruchs einer Gerichtsinstanz oder dem Staatsgerichtshof überlassen möchte.

Die Motionäre schlagen vor, dass die Landespolizei bei Kollisionen gemäss Art. 47 Abs. 3 SVG, zu welchen sie über das ‘eCall-Notrufsystem’ gerufen wurde, nur tätig werden darf, wenn der Geschädigte einer etwaigen Kollision dies ausdrücklich wünscht. Dann bleibt auch bei ‘eCall-Anrufen’ die Entscheidungsfreiheit, ob die Polizei tätig werden soll oder nicht, bei den betroffenen Personen, also in erster Linie beim Geschädigten und nicht bei einer neuen technischen Kommunikationsinfrastruktur.

Oder anders ausgedrückt: Der Mensch soll entscheiden und nicht eine Maschine.

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